Hans Christian Andersen
Uraufführung 19. November 2005
Regie: Andreas Seyferth
mit
Hubert Bail
Ala Freyberg
Wolf Friedrich
Achim Grauer
Elisabeth Wasserscheid
Assistenz: Julia Strobel
Musikal. Leitung: Marcus Tronsberg
Fassung/Dramaturgie: Margrit Carls
Bühne: Ernst Klünner
Kostüm: Ursula Burger
Lichtdesign: Jo Hübner
Stellen Sie sich vor, eines Abends klopft es ganz sacht an Ihre Tür: vor Ihnen steht eine vornehme Gestalt, die sich als Ihr ehemaliger Schatten vorstellt... Wie konnte das passieren? So: Ein junger gelehrter Mann aus dem Norden. Ein heißes Land. Das Blut kocht und die Phantasie schäumt über. Im Nachbarhaus entdeckt man – ja was? Und eines Morgens findet man sich ohne Schatten, was ausgesprochen peinlich ist, weil es da schon eine berühmte Geschichte gibt von einem Mann ohne Schatten; und der junge Dichter will alles nur kein Plagiator sein…
Eine rabenschwarze Geschichte über einen so phantasievollen wie „schwierigen“ Künstler. Einer, der sich herzzerreißend schwer tut mit sich und der Welt, was letztere ihm mit Nichtachtung dankt. Eine abgründige Farce über die, die „es schaffen“. Merkwürdige Existenzen, deren dunkles Treiben von höchstem Erfolg gekrönt ist. Deren strahlende Oberfläche Blendwirkung hat. Eine bittere Satire über Scharfsichtige, die der rosaroten Blindheit anheim fallen.
Geschrieben von einem, den man weitgehend auf das Bild des süßlich-schmerzlichen Märchenonkels eingefroren hat. Hans Christian Andersen war einiges mehr als das:
Neben seinen circa 160 Märchen und Geschichten – die teilweise höchst freche und anarchistische Untertöne anschlagen – hat er Romane geschrieben, Dramen, Reisebilder, Gedichte, Tagebücher, Briefe. Hat wunderschöne und wundersame Scherenschnitte gefertigt, fein ziselierte und archaisch-primitive. Hat gezeichnet. War ein farbenfroher Freund der Collage und des „Crossover“ zwischen den Genres. Hat experimentiert. Hat die Märchensprache revolutioniert.
Einer, der in Bewegung war. Der komplexer, tiefsinniger und moderner ist, als sein Image vermuten lässt.
theater Viel Lärm um Nichts gratuliert Hans Christian Andersen zum 200. Geburtstag!
PRESSESTIMMEN
.. Die Theater-Chefs Andreas Seyferth (Regie) und Margrit Carls (Stückfassung) haben da wieder eine hübsche Sache fertig gebracht: zwischen gestaffelten Stoffwänden, für gelegentliche sparsame Schattenbewegungen, wird nicht nur diese psychologisch komplizierte Story um einen abhanden gekommenen Schatten lebendig in Szene gesetzt. Mit einmontierten Texten aus Tagebüchern, Romanen und Märchen gelingt auch eine legitime Annäherung an den Autor H. C. Andersen.
Hubert Bail, ein ganz klarer, uneitler Schauspieler, ist perfekt für die Rolle des jungen gelehrten Mannes, des "Dichters", auf Reisen in südlich heißen Gefilden. In einem Fenster fasziniert ihn eine weibliche Silhouette. Er schickt seinen Schatten auf Erkundung – der, nach Menschen-Existenz strebend, sich auf und davon macht. Nach Jahren wieder aufgetaucht, gelingt es diesem gesellschaftlich arrivierten Ex-Schatten – Achim Grauer als öliger Elegant in Schwarz –, jetzt seinen einstigen Besitzer zu seinem Schatten zu machen. Und just mit dessen Belesenheit die für ihn, den ja nur zweidimensionalen Hochstapler, gefährlich scharfsichtige Prinzessin zur Braut zu gewinnen.
Ein schönes, in viele Richtungen deutbares, auf jeden Fall aber ein realistisch grausames Märchen. Der Böse gewinnt, der gute Dichter – in dessen Klugheit sich Ala Freybergs pikante Prinzessin fast verliebt hätte – muss sterben. Der textdichte Abend ist nicht unanstrengend. Aber für "comic relief“ sorgt die bei der Premiere noch etwas überquirlige Elisabeth Wasserscheid als das "hässliche junge Entlein", stets des Dichters munter plapperndes Alter Ego.
Münchner Merkur
…Der sich immer wieder geheimnisvoll verändernde Raum von Ernst Klünner ist eine Elegie in Schwarzweiß mit Schattenspielen und betörend schönem Licht (Jo Hübner). Hubert Bail spielt einen vom Unverstandensein tief erschütterten Dichter, der vollends verstört ist, nachdem sein Schatten eine eigene Existenz begonnen hat. Diesen umgibt Achim Grauer mit einer mephistophelischen Eleganz, die den darunter liegenden Abgrund erahnbar macht.
AZ
Ein gelehrter Dichter, in jungfräuliches Weiß gehüllt. Ohne Unterlass beschreibt er riesige Bögen weißen Papiers auf dem Boden. Was er sieht, fühlt, erlebt – es wird zu Literatur, zu unsterblichen Märchenfiguren, die in Kontakt mit ihm treten. Doch das sinnliche Leben bleibt ausgesperrt… Die Lebensproblematik des dänischen Schriftstellers Hans Christian Andersen, dessen 200. Geburtstag in diesem Jahr gefeiert wurde, hat Regisseur Andreas Seyferth in eine sensible Collage gefasst. "Der Schatten" skizziert Andersens Psychogramm (Hubert Bail), eingebettet in ein reizvolles Vexierspiel mit hübschen optischen Spiegel-Effekten…Spannung und Witz… tz
… Das Beste, was eine Geschichte tun kann: Raum lassen für Assoziationen. Und dies taten auch die Schauspieler. Sie kamen mit wenig Requisiten aus und vollbrachten doch großes Theater. Legten Witz und Charme an den Tag, brachten Emotionen zum Kochen und erweckten Neugier durch das Experimentieren mit Licht und Schatten. Gedanken, die um die Schattenhaftigkeit der Dinge kreisen und den eigenen Schatten womöglich lebendig machen – Film ab im Kopf des Zuschauers. MM Würmtal
… brillante Beschreibung des inneren Lebens und Leidens einer überragenden Künstlerpersönlichkeit, die exemplarische Züge trägt … Margrit Carls gelang es auf wunderbare Weise, die Figuren des Dichters zu einem lebendigen Kaleidoskop des Andersen'schen Lebens zu verweben und zugleich den metaphorischen Hintergrund zu entschlüsseln. Das hässliche Entlein begleitet den Dichter lebenslang stellvertretend für sein Ringen um die absolute Schönheit. ... Der Wiedererkennungseffekt der Figuren ist deutlich und zugleich psychologisch erhellend. Andreas Seyferth baute ganz auf die Magie der von den Besuchern mitgebrachten märchenhaften Vorstellungen und verhalf den darüber hinausgehenden Erläuterungen Margrit Carls' mit Humor und feinsinnigen Anspielungen zu fantasievollen Bildern. Das ganz in Schwarz und Weiß gehaltene Bühnenbild von Ernst Klünner, zumeist aus verschiebbaren Wänden bestehend und für Schattenspiele bestens geeignet, war eine kongeniale Lösung. Hubert Bails Sicht auf die Figur des Dichters war eine sehr lebendige, ohne die Skurrilität des Menschen Andersen auszusparen. Seine Darstellung glich einem Auferstehungsakt, ohne dabei den Anspruch auf Realismus einzufordern. Achim Grauer vervollkommnete dieses Bild als sein Schatten auf diabolische Weise. Als erbarmungsloser Gegenspieler, gänzlich unpoetisch und frei von Skrupel, immaterielles Geschöpf einer zunehmend vermaterialisierten Welt, vertilgt er den Dichter zu Lebzeiten. Das schließlich war der Albtraum von Andersen und allen Künstlern vor und nach ihm… www.theaterkritiken.com
Verquälte Montage SZ
DETAILIERTE INFO
Eine dunkle Satire mit einem kafkaesken Ende.
Ein Prozess, der so unerbittlich wie rätselhaft abrollt.
Vorgänge wie aus einem Traum. Realistisch und phantastisch.
Ort der Handlung scheint oft eher ein Innen-Raum zu sein als eine Um-Welt.
Worum geht’s?
Einer, der eine Vision hat, schickt sein „dunkles Abbild“ (so des Wortes SCHATTEN etymologische Bedeutung) los, um die Wahrheit hinter der Erscheinung zu erkunden; dummerweise macht sich der Abgespaltene auf eine Weise selbständig, die nicht das Geringste mit des Dichters Streben nach dem Wahren, Guten und Schönen zu tun hat; und Jahrzehnte später sieht er sich von ihm, dem Fleischgewordenen, seinerseits ins Schattendasein gezwungen und schließlich vernichtet.
Oder, andere Perspektive: ein Schatten befreit sich von seinem Herrn, wird eine eigenständige Person und bringt seinen früheren Besitzer um.
Tragisch und boshaft. Andersen eben.
Licht und Schatten, wahr und falsch, schön und hässlich, gut und böse:
Im Märchen siegt gemeinhin das Erstere. Und sollte es mal traurig enden – wir kennen solche Geschichten von Andersen - kommen die Guten zumindest in den Himmel. Im SCHATTEN muss HCA irgendwas über die Leber gelaufen sein. Er verweigert uns das Happy End, selbst das himmlische. Hier gewinnt der Held keine Prinzessin, hier gewinnt er den Tod. Hier siegt die Materie, nicht der Geist. Die Fälschung drängt das Original ins Abseits. Die Welt des Fakes köpft ihren Künstler.
Die Frage stellt sich, warum der Gelehrte so bereitwillig das Opfer spielt. Den Schattenmann gewähren lässt, bis es kein Zurück mehr gibt.
Weil er Stillschweigen gelobt hat? weil der romantische Blick des Dichters das Hässliche, Verlogene und Üble „gutmütig“ übersieht? etwa aus Buße (da war ja dieser lüsterne Blick auf eine jungfräuliche Erscheinung!)? Komplexe, weil der andere dort war, wo er selbst hätte hingehen sollen? fühlt er sich verantwortlich für sein „dunkles Ich“, das er „herrenlos“ in die Welt geschickt hat?
Derweil Andersen uns rätseln lässt, macht er ein anderes Fass auf. Eine Ebene, auf die er selbst hinweist, indem er den Gelehrten darüber sinnieren lässt, dass es da schon eine Geschichte gäbe von einem Mann ohne Schatten, und dass er es nicht nötig habe, ein Plagiat zu schreiben.
Wir haben also eine Geschichte über einen Geschichten-Erzähler und eine Geschichte über das Geschichten-Erzählen.
Beide Ebenen lassen sich kaum voneinander trennen. Es geht eben nicht nur um einen gutmütigen Gelehrten und einen fiesen Parvenü.
Der Schatten fühlt sich als „Kind der Poesie“. Auf der Ebene des Geschichten-Erzählens ist er es „wirklich“: ein Schatten, der zum Menschen wurde, ist eine poetische Gestalt.
Und muss ein Schöpfer seinem Werk, diesem Kind seiner Sehnsucht nach der Wahrheit, nicht dienen? muss er nicht im Schatten seines Schattens stehen, selbst Schatten dessen, was er hätte sein können?
Eine Chance bleibt dem Gelehrten: eine Welt, die zu klarsichtig wäre, um auf einen Schattenmann hereinzufallen.
Hier kommt die Frau mit dem allzu scharfen Blick ins Spiel…
Andersens Bösartigkeit: Volltreffer!
Die Sehnsucht des jungen Gelehrten, verkörpert in der Vision einer „lieblichen Jungfrau“, gebiert einen Schatten, der die Welt glauben macht, er sei ein Mensch. Die ursprüngliche Sehnsucht ist pervertiert, aus Vision wurde Illusion, Täuschung.
Der Gelehrte wird vom Schatten mit dem Preis für seine Sehnsucht konfrontiert: seinerseits Schatten zu sein. Und der Gelehrte akzeptiert seine „Schuld“.
Die Rückkehr des Schattens verwandelt des Dichters Traum in einen Alptraum, und der Alptraum wird Realität.
Nun repräsentiert der Schattenmann nicht „das Böse“. Noch steht er tiefenpsychologisch für „die dunklen Triebe“. Er ist schlicht das, was keine Tiefe hat: ein Schatten. Zweidimensional. Einer, der tut, als ob. Geschmeidige Hülle. Er kommt glänzend zurecht: in einer Realität, die dominiert ist von Schein und Oberfläche; die glaubt, was Spaß macht zu glauben. Sein Wesensmerkmal – von der entflammten Prinzessin richtig erkannt – ist die Leichtigkeit. Nichts beschwert ihn auf seinem Weg nach oben.
Gleichzeitig ist er als Projektion des Gelehrten eine Horrorvision – für einen, der herzzerreißende Überlebenskämpfe mit sich und der Welt ausficht. Der Gegensatz ist nicht der von einem auf der Suche nach dem Wahren, Schönen und Guten und einem auf der Suche nach Lüge, Hässlichkeit und Übeltat; sondern einem, dem es nicht in den Sinn kommt, außerhalb seines materiellen Wohlstands überhaupt etwas zu suchen.
Die poetische Gestalt, der Schatten, steht für eine prosaische Realität, der der romantische Dichtergelehrte zum Opfer fällt. Und stellt gleichzeitig die Basis einer Geschichte dar, in der es um den Akt des Schreibens geht, einen Akt, der für den Schreiber oder Geschichten-Erzähler heißt, sich dem Unwirklichen auszusetzen.
Einfacher macht Andersen es uns nicht.
„Die Suche des Gelehrten nach Wahrheit und Schönheit gipfelt in seiner Vision der Poesie als junger Frau. Doch scheinbar existiert kein Eingang zu dem Haus, in dem sie sich versteckt; einzig indem er seinen Schatten losschickt, kann er auf einen weiteren Blick hoffen. Poesie selbst wird so zu einer schattenhaften Erfahrung, nur zugänglich für einen Autor, der die Grenzen geistiger Gesundheit bereits überschritten hat.“ Hans Henrik Møller
Eine rätselhafte Geschichte, die das Beste tut, was eine Geschichte tun kann: Raum lassen.
Für Assoziationen aller Art.
Die Thematik Schöpfer – Werk lässt sich ausdehnen auf jeden beliebigen Bereich, wo der Mensch kreativ wird und sein Werk ihn ein- bzw. überholt.
Vielleicht wollte Hans Christian Andersen uns auch etwas erzählen darüber, dass wir alle ständig Geschichten erzählen, auch unsere eigene: Geschichten, beruhend auf Projektionen … wollte einen Hinweis geben auf die „Schattenhaftigkeit“ all dessen, was existiert… Oder stimmt er einen Abgesang auf die Romantik mit ihren „frühlingsgrünen Wäldern“ an…?
Ein SCHATTEN-Projekt kann nur Denk- und Fühl-Räume frei und Fragen offen lassen. Film ab im Kopf des Zuschauers! Schließlich geht’s um Leben und Tod.
Schöpfer und Geschöpf: Andersens Spiegelungen.
Durchaus möglich, dass Andersen sich äußerlich in der langen hageren Gestalt des Schattens karikiert hat; auch waren Egozentrik und gelegentlicher Zynismus dem ausgebufften Strategen und Selbstvermarkter Andersen durchaus nicht wesensfremd.
In unserer Version vom SCHATTEN trägt vor allem der Gelehrte Züge Hans Christian Andersens. Andersens Ängste, seine Einsamkeit, Zerrissenheit, Hypochondrie, Überempfindlichkeit, seine intensive, aber wohl niemals ausgelebte Sexualität geben dieser Figur in unserer Fassung Fleisch.
„Wie bin ich mir selbst ein Rätsel!“
Während seine Autobiographien seine Kindheit in einen idyllischen Glanz tauchen, kommen seine Märchen der grausameren Wahrheit oft näher.
„Es ist, wie das meiste, das ich geschrieben habe, ein Spiegelbild von mir selbst.“
Mit keiner Figur wurde Hans Christian Andersen stärker identifiziert als mit dem andersartigen, einsamen und misshandelten HÄSSLICHEN ENTLEIN. Entlein stand für Hans Christians alles andere als idyllische Kindheit und Jugend in ärmsten Verhältnissen, unter anderem mit einer alkoholkranken Mutter und einem geisteskranken Großvater. Aber:
„Zuerst macht man so furchtbar viel Schlimmes durch – doch dann wird man berühmt!“
Aus Dreck lässt sich bekanntlich Gold machen, wenn man Alchimist ist, und das war Andersen. Der Schatten seiner Kindheit war Motor und Fundus. Zeit seines Lebens hat er sich seine kindliche Phantasie und Schöpferkraft, aber auch sein Anders-Sein bewahrt.
Wir haben dem Geschichten-Erzähler aus dem SCHATTEN ein solch kindlich-kreatives Alter Ego an die Seite gegeben: in Gestalt von Hans Ælling, dem „hässlichen Entlein“ (Ælling (dän.) = Entlein).
Das hässliche Entlein endet bekanntlich als Schwan.
Des Gelehrten Schwanengesang ist die Geschichte von seinem SCHATTEN.
Was von ihm bleibt, ist Schrift. Kein Leben, aber Kunst.
Und das war wohl auch die persönliche Tragödie des
Hans Christian Andersen.